Kommentar: Formel 1 - die verzerrte Optik

Um es gleich vorwegzunehmen: Lewis Hamilton ist wohl aktuell der beste Fahrer im Formel 1-Circus, wenn nicht sogar einer der besten Fahrer in der Formel 1-Geschichte. Doch der Hype, der um ihn in der Presse inszeniert wird, geht auf die Nerven und verzerrt jeglichen fairen Vergleich mit großen Fahrern der Motorsportgeschichte.

Seit die Formel 1 in ihr Corona-Jahr gestartet ist und Mercedes seinen wohl besten Formel 1-Rennwagen aller Zeiten gebaut hat, überschlagen sich die Begeisterungsstürme über die neuen Rekorde von Lewis Hamilton. Die meisten Poles, die meisten Siege, die meisten Führungsrunden, die schnellste Runde oder was es sonst noch an Superlativen gibt. Leider noch nicht die meisten WM-Titel. Doch diesen Rekord schreiben bereits nahezu alle Journalisten herbei und werden wohl auch über ihn in absehbarer Zeit berichten können. Denn aktuell bräuchte Lewis kein Qualifying gewinnen, um das Rennen als Erster zu beenden. Er könnte auch vom Ende des Feldes starten und würde mit seinem überlegenen Mercedes bei normalen Rennverlauf mindestens aufs Podest fahren. Vor diesem Hintergrund werden die „gepriesenen“ Rekorde selten relativiert, geschweige denn in einem historischen Kontext gesehen.

Im Fokus stehen, wie könnte es anders sein, Lewis Hamilton und Michael Schumacher. Für beide gilt, dass sie wohl mit die besten, wenn nicht die besten Fahrer ihrer Generation sind und waren. Doch wer waren ihre Konkurrenten? Schumacher fuhr gegen einen Ayrton Senna, Nelson Piquet, Alain Prost oder Damon Hill. Und Lewis Hamilton? Vielleicht Sebastian Vettel oder Jenson Button. Vergleicht man ihre Dienstwagen, mit denen ihrer damaligen Konkurrenz, kommt man schnell zum Ergebnis, dass Lewis‘ Mercedes praktisch konkurrenzlos ist und Michael zunächst in seinem Benetton und dann später in seinem Ferrari gegen den damaligen harten Konkurrenten Williams technisch unterlegen war und beide Rennwagen mit seinem Know-how erst erfolgreich weiterentwickelt werden mussten.

Und auch medial hat sich viel verändert: Fährt Lewis Hamilton mit einem platten Reifen in der letzten Runde als Erster ins Ziel, überschlagen sich die Medien über diese grandiose Bravourleistung. Dagegen erreichte Michael Schumacher 1994 in Barcelona den zweiten Platz in einem Rennen, bei dem er mehr als die Hälfte der Distanz nur den fünften Gang zur Verfügung hatte. So äußerte sich kein Geringerer als Gerhard Berger, der 1996 bei Benetton Michaels Fahrzeug übernahm über dessen fahrerische Qualitäten wie folgt: „Sein Auto ist praktisch unfahrbar. Bei full speed auf Bodenwellen geht es ‚in stall‘, wie ein Flugzeug, bei dem die aerodynamische Wirkung abrupt abreißt“. Und weiter: „Michael hatte eine Art übersinnlichen Reflex für die Situation und nahm das Gegenlenken auf der Bodenwelle automatisch vorweg, hatte diesen Ablauf schon in sich gespeichert. Wer dieses Auto auch im Grenzbereich so souverän im Griff hat, muss absolute Extraklasse sein“.

Resümee: Klar sprechen Statistiken eine deutliche Sprache. Klar ist auch, dass diese Zahlen der Motorsportgeschichte über jeglichen Zweifel erhaben sind. Sie sollten allerdings im richtigen Kontext gesehen werden, um ihren wirklichen Wert zu erkennen. Und dabei hilft nicht selten ein Blick in die Geschichtsbücher.

Foto: Daimler Media