Rücktritt – als besonderes germanisches Ritual?

Kaum ein Tag ohne Rücktritt. Kaum ein Tag neuer Politiker-Beschuldigungen. Deutschland – Hochburg der Fälscher, Betrüger und/oder Memmen? Was ist los mit uns Deutschen? Haben wir eine besondere Rücktrittskultur oder sind wir nur zu dünnhäutig? 


Jetzt also auch der Papst. Zugegeben: In einer langen Reihe mehr oder weniger erzwungener Rücktritte aus gesundheitlichen, politischen oder auch moralischen Gründen ist seine Entscheidung, sein Amt niederzulegen, der überraschendste und doch auch nachvollziehbarste aller aktuellen Rücktritte. Doch was ist los mit uns Deutschen? Herrscht etwa in Deutschland eine besondere Rücktrittskultur?  


In keinem Land der Welt scheinen so viele Protagonisten vorzeitig aus ihren öffentlichen Ämtern zu scheiden wie in Deutschland. So sind bereits Bundespräsidenten, Bundeskanzler, Bundes- sowie Landesminister von ihren Ämtern zurückgetreten. Zwei Bundespräsidentenrücktritte in Folge waren schon nicht schlecht. Der Papstrücktritt toppt allerdings alles und macht Deutschland auf lange Zeit in Sachen „Rücktritt“ unschlagbar. Wir sind und wir waren Papst! 


Auch die evangelische Landeskirche in Deutschland musste bereits ihre Erfahrungen in Sachen „Rücktritt“ sammeln, als Anfang 2010 die Ratsvorsitzende der EKD, Margot Käßmann nach einer Alkoholfahrt ihren Hut nahm und damit fast zur „Rücktrittsikone“ stilisiert wurde. Und gerade ihr Fall zeigte, „…. dass es in Deutschland schon einen Hang zur Skandalisierung von Umständen gibt, die in der Welt allenfalls belächelt würden …", stellte etwa der Hamburger Historiker Michael Philipp fest, der 250 Rücktrittsfälle von Politikern aus 60 Jahren deutscher Geschichte untersucht hat. 


Rücktritte, die insbesondere in der Politik selten aus freien Stücken erfolgen. So wie der ehemalige Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann, der 1980 über eine Briefkopf-Affaire stolperte oder der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, dem in den 80er Jahren seine Nähe zur schwäbischen Industrie in Asien zum Verhängnis wurde. Besonders in Erinnerung blieb auch der Rücktritt des ehemaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der sich für die Zeitschrift Bunte mit seiner Lebensgefährtin Kristina Gräfin Pilati-Borggreve im Swimming-Pool ablichten ließ, während gleichzeitig die Bundeswehr unmittelbar vor ihrem Einsatz in Mazedonien stand. 


Auch wenn der Sturm der Entrüstung noch so tobt – manche Politiker sitzen ihre Affairen einfach aus. Nicht selten haben es Politiker geschafft, ihren geforderten Rücktritt noch abzuwenden. So wie der ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Günter Oettinger. Er entschuldigte sich für seine falsche Behauptung, sein Amtsvorgänger Hans Filbinger wäre ein "Gegner des NS-Regimes" gewesen und machte anschließend als EU-Kommissar Karriere. Oder auch der frühere Außenminister Joschka Fischer, der sich bis 1975 als Mitglied der extremistischen und militanten Gruppe „Revolutionärer Kampf“ in Straßenschlachten beteiligte, bei denen Polizisten zum Teil schwer verletzt wurden. Ganz offen bekannte er sich später in einem Stern-Interview zu seinen Gewalttaten und blieb trotzdem Bundesaußenminister. 


Großes Glück hatte 1984 der ehemalige Verteidigungsminister Manfred Wörner in der so genannten Kießling-Affaire, als er den Vier-Sterne-General und damaligen stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber Günter Kießling wegen dessen angeblicher Homosexualität und vermeintlicher Erpressbarkeit als Sicherheitsrisiko einstufte, ihn zwar in den vorzeitigen Ruhestand versetzte, aber doch wieder rehabilitieren musste. Kießling bekam seinen großen Zapfenstreich und Wörner wurde NATO-Generalsekretär. 


Dass Franz Josef Strauß 1971 nicht zurücktreten musste, als ihm in der Nähe seines Hotels am Central Park in New York zwei Prostituierte seine Brieftasche samt Führerschein und Pass klauten war wohl eher der damaligen Zeit geschuldet. Heute kaum vorstellbar, dass sich damals die Republik vor Begeisterung auf die Schenkel klopfte und Straußgegnern bei den wortreichen Rechtfertigungsversuchen des Ex-Ministers die Schadenfreude aus den Knopflöchern quoll. Passiert ist nichts. Die Schadenfreude beschränkte sich auf ein zwar breites, aber stilles Grinsen. Heute wie damals gab und gibt es niemanden, der den Skandalprotagonisten in öffentlicher Debatte direkt angegriffen hätte. 


Übrigens: Einen Doktortitel hatte Strauß nicht, seine begonnene Dissertation verbrannte in den Kriegswirren 1944. Zu Lebzeiten schon unkten seine Gegner, dass er „…. das wie immer sehr geschickt gemacht hätte. Hat er wohl damals schon geahnt, dass man seine Arbeit noch posthum ausgegraben hätte …!“


Und doch, nicht immer sind sich Politik und öffentliche Meinung einig in ihrer Beurteilung der „Politiker-Vergehen“. Im Fall von Anette Schavan hatte nicht einmal die Opposition ein gutes Gefühl beim Gedanken des Rücktritts. Politisch gesehen gab es wohl keine Alternative. Und auch sie wird nicht die Letzte einer illusteren Reihe von geschassten Politikern sein. Personaldebatten sind gerade in der heutigen Zeit das Salz der medialen Suppe. Und es geht Schlag auf Schlag. Erst stand Peer Steinbrück, dann Rainer Brüderle und jetzt aktuell einmal mehr Gregor Gysi auf dem Prüfstand. 


Und noch eine – nicht ganz ernst gemeinte Frage: Tritt eigentlich Franz Beckenbauer auch zurück, wenn herauskommen sollte, dass er gar kein Kaiser ist? So viel zum Thema Rücktritt, Titel und Rücktrittskultur in Deutschland.